Obwohl ich hoffnungslos hinterher bin mit dem Blog und noch Istanbul aufzuarbeiten hätte und das neue kleine schwarze Kleid, geht jetzt ein Web 3,0 – Gruss nach Berlin, genauer gesagt nach Friedrichshain, wo jetzt GZ (wie gute Zeiten) grad den Wallenstein verdaut.
Friedrichshain ist ja beste Berliner Innenstadt-Lage, aber trotzdem glaubt man immer, es wäre leicht beschattet. Als würde die Sonne, die gleichmäßig freundlich über Charlottenburg wie Prenzelberg scheint, morgens im Eiltempo über Friedrichshain hinweggalloppieren, um ja nicht zuviel Strahlkraft auf die Friedrichshainer zu verschwenden. Und während GZ noch an einer gelungenen Formulierung zu seiner Wallenstein-Kritik feilt (der beste Brandauer seit Jahren???) ruft doch grad Harald an. Und schlägt vor (Weil er hat GZ’s Kritik schon gehört) es hiesse der „beste Brandauer seit Menschengedenken“. H. befand sich in dem Moment Neuling Ecke Ungar, als ich bemerkte, dass ich an einem Blog namens Mühsam Ecke Sorge sässe, und H. meinte sogleich, das wär‘ doch ein guter Titel für einen Roman, und eine CD und eine DVD könnnten auch gleich dabei rausspringen.
Nun – ein Roman soll hier nicht angedroht werden, deshalb werd ich mich kurz fassen.
Es war vorgestern. Ein Freund aus F. kam vorbei und vermeldete, dass der Aufschwung in Deutschland nur in den Zeitungen stattfindet, und dass samt und sonders in Berlin nichts davon spürbar sei. Alles eine Ente. Und in Friedrichshain sogar eine Peking-Ente, obwohl dort reihenweise die chinesischen Gasthäuser schliessen. Das ist aber traurig, meinte ich, aber erklärbar. Wegen Mühsam Ecke Sorge.
Die im rechten Winkel aufeinanderstossen. Die Erich Mühsam-Strasse begrenzt den Petersburger Platz nach unten, oberhalb des Bersarinplatzes, und nach etwa 100m stadteinwärts kreuzt sie die Richard-Sorge-Strasse.
Man kann sich einfach nicht vorstellen, dass man Mühsam Ecke Sorge eine Champagnerbar findet. Oder dass Tom Ford in dieser, wohlgemerkt „besten Innenstadtlage“! – seinen neuen Berliner Flagship-Store aufmacht.
(Hier kommt in Kürze JM mit seiner neu gekauften Tom-Ford-Fliege als Photo)
Ja, auch wenn um eine andere Ecke der Mühsam-Strasse ein Herr mit erlesenem Musikgeschmack eine LP mit dem Song „Champagne-Charlie is my name“ aufbewahrt, Champagner trifft die Strassenlage nicht so richtig.
Aber Strassenlage ist natürlich wichtig.
Ich war mal in Chicago eingeladen, einen Vortrag zu halten, und der Veranstaltungsort lag an der North Avenue. Ich hab die auch auf dem U-Bahnplan entdeckt und bin hingefahren. Dort stieg ich aus, und die Hausnummern waren so um die 680 herum. Veranstaltungsort war irgendeine 3.421. So, das hab ich in Chicago gelernt, man sagt nicht nur die Strasse, man sagt die nächste Kreuzung. North at Damon. Das ist die hilfreiche Verknüpfung. Doch zurück zu Mühsam, Ecke Sorge.
Es klingt eigentlich gut. Besser jedenfalls als Sorge, Ecke Mühsam, obwohl Sorge die längere Strasse ist. Richard Sorge war ja auch Held der Sovietunion, posthum natürlich, man hat da einiges vermasselt, nachdem er als Spion aufgeflogen war und man ihn in Japan gehenkt hat. Eigentlich schon davor. Mit Mühsam hatte er eins gemeinsam: Das Schreiben! Mühsam und Sorge waren hauptberuflich Schriftsteller bzw Journalisten! Und auch noch für die Roten!
Der Menschheit ganzer Jammer fasst mich an, um mit Wallensteins Zeitgenossen zu sprechen. Erbärmliche Leben, ringend um Worte und Wahrheit, erbärmliche Tode, erbärmliche Namen, erbärmliches Erinnern. So viel geballte Mühsame Sorge strahlt natürlich auch auf einen Stadtbezirk aus, der, obwohl beste Innenstadt-Lage, den Segnungen des Aufschwungs noch entkommt.
Ja, Sie wissen, auch in mir wohnt ein kleiner Neoliberaler, der ab und zu anklopft und gehört werden will. „Die Revanchisten haben doch schon die Stalin Allee umbenannt und den Palast der Republik geschleift“ flüstert er. „Sie könnten doch auch Mühsam und Sorge umtaufen!“ Doch da schaltet sich mein eingebauter Neo-Aufklärer ein: „Pustekuchen! Palast und Stalin waren Monumente der Selbstbehauptung, die müssen natürlich weg! Aber Mühsam und Sorge, dass soll doch auf ewig dem Proletariat verkünden, wie mühsam und sorgenvoll die Revolution und das Nein-Sagen ist! Das muss auf immer so bleiben, diese telling names der roten Niederlage.
So, und in dem Dilemma, da hab ich doch ein versöhnliches Angebot an die Berliner Stadtverwaltung: Wollt ihr Friedrichshain, beste Innenstadt-Lage, am Aufschwung teilhaben lassen, wollt ihr Champagnerbars und Tom Ford Flagship Stores? Ja? Dann legt bitte einige Strassen um. Mühsam und Sorge sind in Zukunft nicht eurem rechten Winkel untertan, nein, sie sind paralell und werden sich auch im Unendlichen niemals schneiden. Was sie unendlich oft schneidet, sind Strassen mit aufbauenden Namen.
Das gibt dann feine Adressen. Hedgefondstrasse, Ecke Sorgestrasse, zum Beispiel. Oder Mühsam, Ecke Cunnilingus-Strasse. Gasprom, Ecke Mühsam. Sorge, Ecke Chanel. Beluga, Ecke Mühsam.
Und so weiter.